Vier Nullen zu viel. Oder: Wie man schriftstellerisch in die 90er reist

Ein Gastartikel vom Autor höchstselbst…

Erinnert ihr euch noch an die 90er? Im Fernsehen wurde geblödelt, was das Zeug hält. Es war eine Zeit der Euphorie, man lebte für den Augenblick. Der Kapitalismus hatte gesiegt, die Love Parade hämmerte durch Berlin, Undergroundclubs luden zu Partys und Ecstasy … Alles schien möglich! Noch verrückter ging es allerdings in Polen zu, wie ich es selbst erleben durfte. Das hat mich zu meinem Roman „Vier Nullen zu viel“ inspiriert, ein irres Roadmovie, mit dem ihr in diese Zeit eintauchen könnt.

Obwohl ich „Zeitgenosse“ bin, die 90er also selbst erlebt habe, war einiges an Recherche nötig, um die spezielle Stimmung dieser Jahre vermitteln zu können. Bei den eigenen Erinnerungen ist es ja leider so, dass sie lückenhaft sind und man zudem ja auch nicht überall dabei, geschweige denn immer am „Puls der Zeit“ war. Die Raver-Mode zum Beispiel, die aus heutiger Sicht exemplarisch für das damalige Lebensgefühl steht, war damals nichts für mich. Und welchen Stand die Unterhaltungselektronik in welchem Jahr hatte (noch Walkman oder schon Discman?), weiß man auch nicht auf Anhieb. Umso erfreulicher, was sich alles im Netz finden lässt, z.B. dass auf Partys der frühen 90er auch mal ein Schnuller an einem Band um den Hals getragen wurden. Es gibt Hitliste der 90er-Vokabeln (oberaffengeil, Hupfdohle) und natürlich genaueste technische Angaben zu den Autos der Zeit. Nimmt man dann noch gedruckte Quellen wie „Das Wörterbuch der 90er“ einschlägige Bildbände oder Literatur zur Generation X dazu, rundet sich das Bild langsam ab.

Oben drauf habe ich dann noch die spezielle Stimmung im „wilden Osten“, nämlich in Polen, gepackt. Denn die ehemalige Volksrepublik in den frühen 90er, das war Euphorie, Wahnsinn und Verrücktheit hoch zwei. War ein C-Netz-Koffer im Westen Spielzeug für Jungschnösel im Cabrio, war er in Polen ehrfurchteinflößendes Symbol des Businessman, wobei egal war, auf welchem Weg das Geld verdient wurde. Hauptsache Geld, so viel wie möglich. Allerdings – und an der Stelle musste ich erneut recherchieren – durfte das Geld nicht so viele Nullen haben. 1995 wurde nämlich aus 10.000 alten Zloty ein neuer Zloty. Die Inflation in den späten 80er hatte Nennwerte bis hin zu einer 2-Millionen-Zloty-Banknote nötig werden lassen. Wie viel z.B. eine Flasche Bier in welchem Jahre kostete (15.000? 18.000?), war nicht ganz leicht herauszufinden. Dass in Polen gewohnheitsmäßig aber drei Nullen weggelassen wurden, also statt 100.000 eben 100 gesagt wurde, führte bei der Umstellung zu einem lustigen Verwirrspiel (100 alte oder neue, äh, 100.000 oder 10, oder wie?). Es waren einfach vier Nullen zu viel. Und so habe ich dann auch mein Buch genannt.

Anmerkung: Ich durfte das Buch lesen – und hab es rezensiert. Mir hat es super gefallen!

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